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Dargestellt ist die Ärztedichte pro 1000 Bewohner/innen am 01. 01. 2016 in unterschiedlichen Grazer Stadtbezirken (Histogramme; Quelle: eigene Berechnungen). Die Grafik zeigt einen innerstädtischen Vergleich, für den die Anzahl der Arztpraxen (Quelle: Homepage der Ärztekammer Steiermark, Abfragen im Okt. 2016) auf die jeweilige Wohnbevölkerung (Quelle: Stadt Graz, Präsidialamt, Statistik) umgerechnet wurde. Die errechnete Rate bezeichnet die Anzahl der Arztpraxen pro 1.000 Einwohner/innen.

Author

Christoph Pammer

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GesundheitsplanungÄrztedichteUnterversorgungGrazPrimary Health CarePHC-Zentren

Das Beispiel der Ärztedichte rechts und links der Mur: Mehr Sachlichkeit in die Gesundheitsplanung und Primärversorgung!

13.09.2018

Haben wir nun zu viele oder zu wenige Ärztinnen und Ärzte? Expert/innen sind in dieser Frage bereits seit längerem geteilter Meinung, Ärztekammerpräsidenten, „unabhängige“ Gesundheitsökonomen,  Landeshauptleute und neuerdings Bürgermeister/innen. Nunmehr, mit dem Beschluss bei den Finanzausgleichsverhandlungen erheblich in PHC-Zentren zu investieren, stellen sich ernstzunehmende Fragen, zu denen es einen vermeintlichen Informationsbedarf in der Bevölkerung gibt. Die Frage nach der unmittelbaren medizinischen Versorgung lässt niemanden gänzlich unberührt. Vorweggenommen: Ob wir zu viele oder zu wenige Ärzt/innen haben, ist eine „falsche“ Frage – es kommt auf die Verteilung an.


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Wahre Qualität ist am Bedarf ausgerichtet

Länder, Ärztekammer und die Sozialversicherung sind gefordert, die ärztliche Versorgung am Bedarf auszurichten. Um aber den tatsächlichen Bedarf an medizinischen Leistungen in der Bevölkerung einschätzen zu können (was die Gesundheitsplanung allerorts vorgibt, zu machen), kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich dieser zu einem sehr hohen Grad in der Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen in Spitälern oder von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten abbildet (was die Gesundheitsplanung durch die Anwendung der gegenwärtigen Methoden macht). Dagegen sprechen zu viele epidemiologische Kenntnisse über die Verteilung der Erkrankungen in der Bevölkerung sowie gesundheits-ökonomische Phänomene, wie jenem der angebotsinduzierten Nachfrage von Gesundheitsleistungen oder das Cream skimming – so nennt man das Abschöpfen der Gewinne mit der Versorgung „guter Gesundheitsrisiken“ am Gesundheitsmarkt. Ebenso wenn es ökonomisch Benachteiligte nicht rechtzeitig in eine Behandlung schaffen, und diese nicht alles beinhaltet, was medizinisch auf dem neuesten Stand des Wissens gemacht werden kann. Obwohl es zweckmäßig und wirtschaftlich wäre. Und nicht zu vergessen das allgemeine Marktversagen, das mit freiem Auge für alle erkennbar ist, wozu die Gesundheitsplanung allerdings nicht steht. Nur ganz leise gibt man zu, dass es außer Kontrolle geraten könnte. Aber ganz laut verweist man auf die „fehlende Evidenz“ – es gäbe zwar Unterschiede bei der „Hotelkomponente“ und den Wellness-Angeboten, aber nicht in der Qualität der medizinischen Behandlung und Therapie.

Alle wesentlichen planerischen Aktivitäten im Medizinsystem betrachten Graz als versorgungswirksam für Graz Umgebung und andere steirische Bezirke, und sonst als homogenen Raum. Die Unterschiede innerhalb von Graz – immerhin einer Bevölkerung von mehr als 300.000 Personen, scheinen zumindest nicht von öffentlichem Interesse. In keiner Zeile der offiziellen Planungsinstrumente wird auf die Unterschiede innerhalb von Graz eingegangen. Bedarfsplanung muss jedoch Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Einkommen, Pflegebedürftigkeit und Sterblichkeit einbeziehen, und diese unterscheiden sich innerhalb von Graz erheblich.


Die Ärztedichte in Graz


Der Indikator Ärztedichte gibt Auskunft über die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung einer Region. Eine niedrige Ärztedichte wird in der Regel als medizinische Unterversorgung gedeutet. Ob eine sehr hohe Ärztedichte auf eine sehr gute Versorgung oder eine Überversorgung hindeutet, ist hingegen umstritten. Eine hohe Dichte kann Ausdruck eines hohen Spezialisierungsgrads der Ärzteschaft sein. Verglichen mit andern Ländern liegt die Ärztedichte in Österreich im oberen Drittel. Österreichische Vergleiche mit Städten ähnlicher Größe sind schwierig, weil oft nur Kassenpraxen dargestellt werden und Informationen über Wahl- und Privatärzt/innen fehlen. Die Ärztedichte international zwischen Städten zu vergleichen ist noch schwieriger, zumal großte Unterschiede bestehen, die wesentlich auf die Gesundheitssysteme zurückzuführen sind, nicht nur auf die Planstellenpolitik der Ärztekammer und Krankenversicherungsträger.

Interessant, weil lebensnah, ist die kleinräumige Betrachtung. Die Ärztedichte entspricht nicht überall dem regionalen Bedarf. Große Differenzen sind in allen Versorgungsbereichen zu erwarten, und Versorgungsungleichheiten gelten zurecht als ernstzunehmendes Problem der Qualität des Medizinsystems. So ist die Ärztedichte, ausgedrückt als Anteil an niedergelassenen Ärzt/innen in einem Stadtbezirk pro 1.000 Einwohner/innen nur ein sehr allgemeiner Maßstab für die Gesamtqualität eines lokalen bzw. regionalen Gesundheitswesens, weil z. B. auch andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen und die Kooperation und Vernetzung der Angebote relevant sind. Der innerstädtische Vergleich der Ärztedichte ist hingegen aussagekräftig, wenn es um die Frage von Ungleichheiten in der Versorgung und darum geht, ob und wie der niedergelassene Bereich weiterentwickelt und in Zukunft geplant (Planstellen, PHCs, Versorgungszentren, etc.) werden könnte.


Grafik: Dichte niedergelassener Ärzt/innen in Graz: Allgemeinmediziner/innen und Fachärzt/innen

Die Arztsitze sind in Graz nicht bedarfsgerecht verteilt.

Die Stadtteile mit der geringsten Versorgungsichte haben eigentlich den höchsten Bedarf. Das Ausmaß der Ungleichheit zum Beispiel zwischen Gries und Lend verglichen mit Geidorf, St. Peter oder Waltendorf ist enorm, ebenso zwischen dem gesamten rechten Murufer verglichen mit dem linken. Dies wird in der Darstellung oben gut ersichtlich. So gibt es am linken Murufer pro Kopf mehr als doppelt so viele Allgemeinmediziner/innen und mehr als dreimal so viele Fachärzt/innen. Auch die Verfügbarkeit von wohnortnahen Fachärzt/innen mit einem GKK-Vertrag ist am linken Murufer deutlich besser ausgeprägt. Wenn man die epidemiologischen und demographischen Veränderungen mit einbezieht, ist es unverständlich, dass es in vielen Bezirken eine/n oder keine/n Fachärzt/innen für Innere Medizin, Psychiatrie oder Kinderheilkunde mit Kassenvertrag gibt. Während der Anteil an Wahlarztpraxen in Graz nunmehr insgesamt  60 % beträgt, unterscheiden sich die Bezirke auch dahingehend, ob und in welchem Ausmaß die Anzahl aller fachärztlichen Praxen (Ausnahme: Zahnärzt/innen) gegenüber allen allgemeinmedizinischen überwiegen.


Die soziale und ökonomische Marginalisierung fortschreiben?


In Graz ist die Mur also wieder einmal mehr als ein Fluss. Sie stellt eine natürliche Grenze zwischen zwei sozial unterschiedlichen Welten dar. Die ehemalige Murvorstadt – die heutigen Bezirke Gries und Lend – waren seit Jahrhunderten das traditionelle Auffangbecken für vieles, worauf die Stadt nicht verzichten konnte, es aber doch als störend empfand – und das die bürgerliche Gesellschaft möglichst weit weg haben wollte. Waren es damals die Pest, die Ruhr oder andere Infektionskrankheiten, so sind es heute chronische Erkrankungen, psychische Erkrankungen und Umweltprobleme, die die Gesundheit in den Bezirken am rechten Murufer maßgeblich prägen. Gleich geblieben sind hingegen die den Erkrankungen zugrunde liegenden sozialen und gesellschaftlichen Faktoren, die eine höhere Krankheitslast verursachen: Armut, Schlechterstellung bei den Merkmalen Bildung, Einkommen, Berufsstatus, bei der Wohn- und Lebensqualität sowie eine geringe gesellschaftliche Teilhabe.

Ein niedriger sozioökonomischer Status wirkt sich verschiedentlich auch auf den Zugang zu Gesundheitsleistungen aus. In diesem Zusammenhang verstärken z.B. Selbstbehalte die sozialen Ungleichheiten weiter. Für GKK-Versicherte sind nur 10 von 22 Allgemeinmediziner/innen in Gries (14 von 39 in Lend) bzw. 8 von 22 Fachärzt/innen (11 von 29 in Lend) ohne obligatorische Selbstbehalte zugänglich. Das ist jeweils weit weniger als die Hälfte des Angebots. Die Leistungen von ambulant tätigen Physio-, Ergo- und Psychotherapeut/innen, Hebammen, Diätolog/innen und anderen Gesundheitsberufen, die im Sinne von Primary Health Care eine regionale Basisstruktur bilden sollen, sind größtenteils oder zur Gänze mit teils hohen privaten Vorauszahlungen und Therapiekosten verbunden. Mit Ausnahme von zwei türkischsprachigen Ärzt/innen in Lend weist die Homepage der Ärztekammer keine Ärzt/innen aus, die bosnisch/serbisch/kroatisch oder türkisch anbieten. Da dies nennenswerte Zugangshürden zur medizinischen Grundversorgung impliziert, liegt der Schluss nahe, dass weite Teile der ambulanten Gesundheitsversorgung für einen größeren Anteil der Bewohner/innen rechts der Mur nicht ohne maßgebliche Barrieren zugänglich sind, obwohl der Bedarf dort größer ist als links der Mur. Hier praktizieren aber mehr als 2/3 der Grazer Ärzt/innen.

In dieser Form bildet die ambulante Krankenversorgung in Graz soziale Unterschiede nicht nur nicht ab, indem sie diese schlicht reflektiert, und die Arztsitze bedarfsgerecht verteilt. Die sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten wird den auch nicht reduziert, z.B. indem - eine gerechtere Verteilung vorausgesetzt - Zugangsbarrieren ökonomisch benachteiligter Gruppen systematisch abgebaut und andere Maßnahmen gesetzt werden. (An dieser Stelle sei auf die besondere Situation von Menschen mit Migrationshintergrund verwiesen). Dies wäre ja die eigentliche Aufgabe des Gesundheitssystems, aber davon ist man in der Planstellenpolitik der Arztpraxen sowieso relativ weit entfernt.  Vielmehr liegt es auf der Hand, dass durch den Status quo der ambulanten medizinischen Gesundheitsversorgung in Graz tagtäglich gesundheitliche Unterschiede vergrößert werden, und die sozialen Unterschiede verstärken.


Primärversorgungszentren auf- und ausbauen

Seit der Veröffentlichung des Konzepts für PHC-Zentren durch die Bundeszielsteuerungskommission (Länder und Sozialversicherungen ohne Ärztekammer) gibt es eine anhaltende Diskussion und Interessenskonflikte gesundheitspolitischer Akteure zur Umsetzung von PHC-Zentren in Österreich. Ein Gesetzgebungsprozess zu PHC-Zentren läuft seit dem zweiten Halbjahr 2015 auf Bundesebene. Aus Sicht der Gesundheitsplanung steht die Sicherstellung einer zielgerichteten Versorgung auf der „richtigen Versorgungsstufe“ im Zentrum, wodurch „medizinisch nicht notwendige Krankenhausaufenthalte“ und eine „Entlastung überfüllter Spitalsambulanzen“ erreicht werden sollen.

Mit einem erweiterten Blick auf den Hintergrund der Reform der Primärversorgung liegt die Idee zugrunde, so viele Gesundheitsprobleme wie möglich niederschwellig und wohnortnah sowie in Teams (nicht nur medizinisch) zu lösen zu versuchen. Dadurch entsteht die hohe Qualität für Patient/innen, potenziell. Die Teamarbeit ist das Alleinstellungsmerkmal des Konzepts. Die Evidenzlage zu den möglichen positiven Effekten von Primärversorgungsmodellen (PHC-Zentren) ist exzellent: möglich scheinen weniger Spitalsaufenthalte, weniger Überweisungen zu Fachärzt/innen, weniger Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen, bessere Ergebnisse für chronisch Erkrankte, bessere Früherkennung, weniger Gesamtkosten. Ein Schelm, wer denkt, dass an einem solchen Anbietermarkt Interesse aus der Gesundheitswirtschaft bestehe, die versuchen könnte, auf die PHC-Gesetzwerdung Einfluss zu nehmen.

Ob die versprochenen Ergebnisse erzielt werden können, wird wesentlich vom Zugang zu den Leistungen (hohe Selbstbehalte auf Psychotherapie, funktionale Therapien, Hebammen etc.) abhängen. Und erst in zweiter Linie von den erzielbaren Qualitätsverbesserungen durch multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Umsetzung von EBM. Die Überwindung von sozialen Zugangsbarrieren und eine bessere Verteilung von ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten ist für das „Funktionieren“ der Primärversorgung wichtiger als die Prozessqualität, die derzeit mit Fokus auf die medizinischen Leistungen in PHC-Zentren diskutiert wird.

Der internationale Indikator „Ambulatory Care Sensitive Conditions" (ACSC) wird dazu herangezogen, Zusammenhänge zwischen potenziell vermeidbaren Krankenhausaufenthalten und diesbezüglichen Einflussfaktoren zu beschreiben. Die ACSC sind eine Reihe von Zustandsbildern, für die ein Krankenhausaufenthalt durch den zeitgerechten, effektiven Einsatz von Primärversorgung potenziell zu vermeiden wäre. Österreich weist eine der höchsten Krankenhaushäufigkeit in Europa auf. Rund 10% der stationären Aufenthalte in der Steiermark im Jahr 2006 waren auf eine ACSC zurückzuführen.[1] Sowohl in den einzelnen Bezirken der Steiermark, als auch im gesamten Bundesgebiet waren deutliche Unterschiede in der Inanspruchnahme von Krankenanstalten mit Problemen, die auch ambulant lösbar gewesen wären, zu erkennen. Die stärksten Zusammenhänge zeigten sich mit der Anzahl der Planstellen im Primärversorgungsbereich, der Krankenhausbettendichte und dem Bildungsstatus der jeweiligen Bevölkerung.

So untersuchten viele Autor/innen den Zusammenhang zwischen Zugang zur Krankenversorgung und sozialökonomischem Status der Bevölkerung mittels der ACSC-Rate als Indikator. Übereinstimmend stellen hier die Autor/innen fest, dass ein schlechter sozialökonomischer Status, meist gekennzeichnet durch niedriges Einkommen, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit bzw. Migrationshintergrund und der damit verbundene oft schlechtere Gesundheitszustand eine starke Verbindung mit dem gehäuften Auftreten von potenziell vermeidbaren Krankenhausaufenthalten hat.

Das bedeutet, dass die Gesundheitsplanung ihre Ziele mit Primary Health Care-Ansätzen eher erreicht, wenn sie die Investitionsentscheidungen mit dem höheren Bedarf in ökonomisch schlechter gestellten Stadtteilen bzw. Gemeinden in Einklang bringt.

 


[1] Frank, A.M. (2009): Ambulatory Care Sensitive Conditions. Erste Anwendung eines internationalen Indikators in der Steiermark. ULG Public Health, Med. Univ. Graz [webpublished]

 

 

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